Eine private Ordnung der öffentlichen Kommunikation ist entstanden. Da soziale Netzwerkdienste wichtige kommunikative Funktionen in politischen Kommunikationsprozessen erfüllen, muss die Frage nach dem öffentlichen Interesse und den öffentlich-rechtlichen Grenzen ihrer privaten Macht sorgfältig geprüft werden. Es ist viel über die Versäumnisse von Unternehmen bei der Löschung problematischer Inhalte geschrieben worden. In diesem Lunch Talk wird die Frage umgedreht und gefragt, unter welchen Bedingungen Nutzer auf die Wiederherstellung von Inhalten klagen können und unter welchen Umständen Gerichte "must carry"-Verpflichtungen für soziale Netzwerkdienste anerkannt haben. Wir werden diese Frage anhand einer Auswahl US-amerikanischer und deutscher Gerichtsverfahren zur Frage der Wiedereinsetzung von Konten und der Wiederveröffentlichung gelöschter Beiträge, Videos und Tweets analysieren. Wir werden die Unterschiede im Verfassungs- und Gesetzesrecht herausarbeiten und die Abweichungen erklären. Unsere Analyse wird auch auf ein größeres Thema von systemischer Relevanz hinweisen, nämlich die unterschiedliche Behandlung von Staaten und privaten Unternehmen als Bedrohung und/oder Garant der Grundrechte in den verglichenen Rechtsordnungen. Schließlich werden wir zeigen, warum es wichtig ist, die private Ordnung der Kommunikation nicht als vom öffentlichen Interesse getrennt (oder sogar trennbar) zu betrachten. Mehr Licht im Dunkel der privaten Normsetzung und Normdurchsetzung ist dringend nötig, denn es steht fest: Was die Facebooks und YouTubes unserer Zeit an Kommunikation erlauben und unter welchen Bedingungen die Twitters und TikToks Inhalte und Posts löschen, beeinflusst in hohem Maße die öffentliche Kommunikation und damit die Bedingungen, unter denen wir demokratische Diskurse stattfinden lassen, in denen über die Verteilung von Rechten und Gütern entschieden wird.
Zum Vortragenden:
PD Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard) ist Forschungsprogrammleiter für „Regelungsstrukturen und Regelbildung in digitalen Kommunikationsräumen“ am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI), Vertretungsprofessur für Internationales Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Leiter des Projekts “Völkerrecht des Netzes” am HIIG Berlin und Privatdozent für Völkerrecht, Internetrecht und Rechtstheorie und Institut für Öffentliches Recht der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Außerdem fungiert er als Energy Cluster Lead für Content Governance am Privacy und Sustainable Computing Lab der Wirtschaftsuniversität Wien und Lektor an der Universität Graz. 2019/2020 vertrat er die Hengstberger-Professur für Grund- und Zukunftsfragen des Rechtsstaates und den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Menschenrechte der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsinteressen zählen das Internet(völker)recht; das Verhältnis von Staaten, Unternehmen und Individuen im Internet(recht); menschenrechtliche Implikationen des Internets, insbesondere die Meinungsäußerungs-Governance; Internet Governance und Internetpolitik; sowie Demokratie und Legitimität im Völkerrecht. Aktuell forscht er zu algorithmischem Entscheiden in rechtsstaatlichen Kontexten. Matthias C. Kettemann studierte Rechtswissenschaften in Graz und Genf und war Fulbright und Boas Scholar an der Harvard Law School (LL.M. 2010). 2012 promovierte er an der Karl-Franzens-Universität Graz mit einer Arbeit zur Zukunft des Individuums im Völkerrecht. 2006 bis 2013 war er Universitätsassistent und Lektor am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Graz. Seit Oktober 2013 forschte er dann als Post-Doc Fellow am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er 2019 habilitiert wurde.
Aktuelle Veröffentlichungen
- Kettemann, The Normative Order of the Internet. A Theory of Online Rule and Regulation (Oxford: Oxford University Press, 2020), i.E.
- Kettemann (ed.), Navigating Normative Orders. Interdisciplinary Perspectives (Frankfurt/New York: Campus, 2020), i.E.
- Wagner/Kettemann/Vieth (Hrsg.), Research Handbook on Human Rights and Digital Technology. Global Politics, Law and International Relations (Cheltenham: Edward Elgar, 2019)
- Mosene/Kettemann (eds.), Many Worlds. Many Nets. Many Visions. Critical Voices, Visions and Vectors for Internet Governance (Berlin: HIIG, 2019), www.hiig.de/publication/many-worlds-many-nets-many-visions
- Kettemann/Dreyer (Hrsg.), Busted! The Truth About the 50 Most Common Internet Myths (Berlin: BMWi/Hamburg: Verlag Hans-Bredow-Institut, Nov. 2019), internetmyths.eu
- Kleinwächter/Kettemann/Senges (Hrsg.), Towards a Global Framework for Cyber Peace and Digital Cooperation. An Agenda for the 2020s (Berlin: BMWi, Nov. 2019), leibniz-hbi.de/de/publikationen/towards-a-global-framework-for-cyber-peace-and-digital-cooperation